Samstag, 4. März 2017

UndoneWalk

Sonntagmorgen. 
Nicht ausgeschlafen, aber der Hund muss bewegt werden. Ich sitze auf der Rückenlehne einer Bank im Park, trinke kleine Schlucke vom Coffee-to-go und denke mit trägem Hirn über die Welt nach. Andere Hundehalter schlurfen an mir vorbei, manche noch, andere schon beinahe wach. Mir fällt auf, dass das Mittel der männlichen Hundehalter verschlafener aussieht als das Mittel der weiblichen. Wobei „verschlafener“ nicht tatsächlich den Unterschied beschreibt, der mir auffällt. Geschminkter, frisierter, dekorierter sind die Damen bereits jetzt, was dazu führt, dass die Herren eben verschlafener aussehen.
Ich selbst trage momentan Parka über Schlafanzug, die Schminke von gestern als Schatten unter den Augen und die Kapuze tief in der Stirn. Zeit für Hygiene hatte ich keine, zu dringend waren des Hundes Bedürfnisse. Selbst als Mann bekäme ich gerade das Prädikat: Sehr verschlafen.
Gesellschaftliche Meinungsmache wie z.B. Gottes Omnipotenz wurde von einem großem Sortiment anderer Doktrinen abgelöst: Sehr lange war beispielsweise der Feminismus sehr wichtig. Trotz aller Notwendigkeit ist es dem aber selten gelungen, eine wirklich gute Figur zu machen. Das hört man schon am Genus: Der Feminismus. Ungeschickt.
Der Feminismus jedenfalls hat es bisher nicht geschafft, den Konsens herzustellen, dass egal ist, wie man aussieht, wenn man eine Frau ist. Finde ich. Jetzt, verschlafen, zerzaust, im Park. Natürlich ist Aussehen auch bei Männern wichtig, aber nicht ganz so absolut.
Man denke an die Schwarzer-Brigade: Heels verboten, Röcke verboten, Decollettè nur an ansonsten Wallendem gebilligt. Schminken blöd, Schmuck blöd. (Mit Ausnahme von großen, bunten Kugeln aus organischem Material, an Schnüren aufgereiht, über entobjektisierten Decollettès baumelnd)
Oldschool-Feminismus eben. Männer sind Schweine, wer sich ihnen qua sexy Klamotte anbiedert auch.
SlutWalks beziehen sich demnach nicht nur auf die Täter-Opfer-Umkehr im Bereich des sexualisierten Verbrechens, sondern richten sich auch gegen die eigenen Reihen: Fight lookism. Fuck off, moralisch überlegene Bioladentante von um die Ecke mit dem missbilligenden Blick. Auch die Schwarzer-Doktrin wurde überholt.
Der Kaffee ist leer, ich verlasse den Park.
Denke darüber nach, ob mein aktuell demonstriertes Mies-Aussehen vielleicht ein kleiner, persönlicher SlutWalk sein könnte. Oder vielmehr ein UndoneWalk. Gegen zwanghaft unverschlafene Frauen.
Bemühe mich, die fehlende feministischen Propaganda zu definieren, die es mir möglich machen würde, mich in einem Moment wie diesem – in authentischem Out-of-bed-look – nicht blöd zu fühlen.
Überlege, ob wirklich der Feminismus versagt hat, oder ob das Aussehens-Imperativ nicht dem Kapitalismus zuzuordnen ist: Schönheitsideal, Haarfärbemittel, Hautstraffung.
Komme dann darauf, dass das Gros der Menschheit sich schon immer um die eigene Attraktivität geschert hat, sich also auch prä-kapitalistisch mit Kaurimuscheln oder Bärenklauen behängt, beziehungsweise sich Blüten ins Haar geflochten oder farbigen Lehm ins Gesicht geschmiert hat.

Ein paar Meter vor mir sitzt ein Typ auf einer Bank. Etwa mein Alter, ganz klar noch wach weil eben noch nicht nüchtern genug, um heimzugehen.
Zwischen ihm und mir führt eine ältere Dame ihren Handtaschenhund spazieren. Der scheißt einen Handtaschenhundehaufen zu Füßen des dichten Typs. Dieser echauffiert sich wortgewaltig über die Sauerei.
Leider nutzt auch mein dummer Hund just diesen Moment, um seine Notdurft zu verrichten. Kacke. Ich bücke mich alibimäßig nach den Exkrementen und raschle mit einer eigens für diesen Zweck erdachten Plastiktüte. Die Scheiße wirklich aufzusammeln bringe ich nicht über mich, zu instabil schwappt der Coffee-to-go mir im morgendlich labilen Magen.
„Hunde raus aus Berlin“ plärrt der Typ die alte Dame an. Ich zerre meinen Hund über die Straße, um Sicherheitsabstand zum Drogenopfer herzustellen.
Der Typ jedoch springt auf und eilt uns nach. Ich verdrehe die Augen. Fühle mich einer direkten Konfrontation zu so früher Stunde noch nicht gewachsen.
Auf gleicher Höhe mit mir linst mir der junge Mann unter die Kapuze. Ich spähe zurück und sehe Partyschäden: Spülwasserfarbene Haut, zu viele Piercings, zu große Pupillen. Mein Snobismus, den ich normalerweise verleugne, wird getriggert und schüttelt alle Müdigkeit von sich ab.
Soll er mir doch dumm kommen, der Hundehasser. So jemand imponiert mir schlicht und ergreifend überhaupt nicht!
Herausfordernd halte ich den Blickkontakt.
Der Typ zieht eine kleine Flasche Schnaps aus der Jackentasche, schaut unerwartet freundlich und hält mir die Flasche hin. „Willste einen?“ fragt er, lächelt und entblößt dabei eine Reihe übler Zähne.
„Äh, danke, ist noch bisschen früh.“ Stammle ich, perplex ob der überraschenden Friedfertigkeit.
Ob er mich kennenlernen könne? Möchte der Typ wissen. Aus der Nähe betrachtet ist er doch 'ne ganze Ecke jünger als ich, Anfang Zwanzig vielleicht.
Ich murmele freundlich Abwehrendes, von wegen vergeben, tut mir leid und so. Er nickt, bedauert, zischt ab.
Als sich mir erschließt, was gerade im Hirn dieses bemitleidenswerten Jungen vor sich gegangen sein muss, trifft mich beinahe der Schlag: Er hat mich als Anhängerin seiner eigenen Kultur interpretiert, mein Äußeres muss in ihm die Vermutung genährt haben, dass ich sehr gerne Sonntagmorgen gegen viertel nach sieben einen kleinen Feigling mit ihm trinken würde.
Jesus fucking Christ.
Dafür können Feminismus, Kapitalismus und der Typ mit den Partyschäden nichts. Ich ziehe mir die Kapuze noch tiefer in die Stirn, so tief, als irgend möglich, und rausche beschämt nach Hause.